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Der Schluss

Wir kehren zurück nach Marrakesch in unseren Riad und sitzen müde von all den Eindrücken in trauter Zweisamkeit im Patio. Vor uns auf dem ziselierten, runden Tisch der obligate Thé à la Menthe, der Minztee und die mürben Bäckereien. Ruhe. Zeit.
“Das Jahr hat zwölf Monate” sagt Said in die Stille. “Vier mal drei Monate. Du magst den Winter in Europa nicht und ich will nicht während der Hitze des Sommers in Marokko sein.” Er sieht mich mit seinen großen Mandelaugen an. Meine Hände in den seinen.
“ Dezember, Jänner und Februar sind wir beide hier. März, April und Mai ist jeder bei sich. Juni, Juli und August komme ich zu dir. Und von September bis November ist wieder jeder bei sich. Wäre das nicht eine Lebensweise für uns?”Er überrascht mich immer wieder mit seinen praktischen, glasklaren Einfällen und guten Lösungen.

“Du hast völlig Recht. So könnte das gehen.”
Ich male mir die neue Lebensweise aus und finde sogleich gefallen daran. Das wäre eine tolle Lösung und auch organisierbar. Ein Leben mit und zwischen zwei Kulturen, zwei Kontinenten, zwei Lebensweisen, zwei Welten. Das Leben zwischen Glamour und elektrisierender Betriebsamkeit, Projekten, Shows und europäischem Leben. Auf der anderen Seite bodenständige, klingende Stille in dieser anderen Kultur. Welch eine Vision. Ich male mir die Bilder aus. Wir sitzen zusammengekuschelt, jeder in seinen Gedanken und Bildern versunken. Keine Skepsis diesmal. Nur Zuversicht. Wir freuen uns auf unsere gemeinsame Zukunft.
In die Stille meint Said weiter versonnen “In unserer Kultur geht die Familie des Mannes zur Familie der Frau, um um ihre Hand anzuhalten.”
“Ja, klar.” antworte ich. “Du wirst deine alten Eltern, die noch niemals Ihre Wüste verlassen haben in den Flieger setzen und über den Madrider oder Pariser Flughafen nach Wien in den 19. Bezirk zu meiner Mutter schicken? Wo sie sich dann in welcher Sprache mit meiner Mutter verständigen wollen? Bist du dir da ganz sicher?”
Er sieht mich mit klarem Blick und völliger Überzeugung an.
“Nein. Wir kommen mit der Karawane nach Wien. Wir ziehen hier Anfang Februar mit elf Dromedaren und neun Leuten los. Dann sind wir etwa Mitte März an der Küste und nehmen die Fähre über Gibraltar nach Spanien.”
Ich sehe mit meinem inneren Auge das Bild, wie elf Dromedare und neun Marokkaner alle ohne Papiere die Fähre nach Spanien besteigen wollen. In die Festung Europa.
“Du möchtest mit elf Dromedaren und neun Marokkanern ohne Papiere nach Europa einreisen? Einfach so?” “Naja” er lächelt mich verschmitzt an unter seinen langen Wimpern “Du verkaufst die Geschichte an eine Fernsehstation und wir haben die Papiere… oder?”
Ich bin wiedermal sprachlos. Er hat so Recht. Da erklärt mir Said mit seiner Klarheit und seiner verwegenen, unverbrauchten Fantasie die Lösung zu einem unlösbar erscheinenden Problem. Und nun bin ich damit beschäftigt, diese Idee in die Realität umzusetzen.
So brechen wir auf zum nächsten Abenteuer und ich mache mir schon mal Gedanken über ein Drehbuch und an welchen Fernsehsender ich mich wenden könnte.
Lustig kann es werden, wenn die Karawane in Spanien landet und zunächst an der Autobahn entlang Richtung Norden zieht. Die Gesichter der erstaunten Menschen – eine Karawane in Europa?

Wie prallen diese zwei Welten in unserer so geordneten und regulierten Welt aufeinander?

Die Karawane zieht weiter durch Süd-West Frankreich der Küste entlang. Durch eine Region, die durch ihre demographische Struktur zutiefst politisch rechts steht. Wie gehen wir mit einander um? Wie kommen die verschiedenen Werte mit einander zurecht? Was passiert in so einer realen, zugleich surrealen Situation?
Die Karawane zieht weiter die Côte d ́Azur entlang. Cannes, Juan les Pins, Antibes, Nice. All unsere vertrauten Bilder im Kopf der heilen Welt der Sommerferien und/oder der 60-er Jahre mit Brigitte Bardot im Kontrast zu einer realen Karawane, die umgeben von diesen Bildern nicht fremder sein könnte. Befremdlich?

Dann geht es weiter durch Norditalien. Das vermute ich relativ friktionsfrei.
Dann zieht die Karawane durch Kärnten. Auf diese Bilder freue ich mich schon.
Dann weiter durch die Steiermark.
Und dann durch Wien. Die Dromedare und Menschen, schon müde von ihrer langen Reise und all dem Erlebten ziehen durch diese für sie fremde Großstadt und stecken kurz vor ihrem Ziel im Stau am Gürtel? Mit elf Dromedaren? Die Exekutive total überfordert? Oder nur mehr brutal?
Wie wird es wohl sein, wenn die Karawane die mit Villen gesäumte Straße hinaufzieht? Werden die Dromedare schräg geparkt an den Bäumstämmen angebunden?
Saids Familie wird von meiner Mutter empfangen. Die Karawane trinkt Tee in einer europäisch-bürgerlichen Wohnung im 19. Wiener Gemeindebezirk. Von Teppichen umgeben wie zu Hause in der Wüste.